09.08.2015 – Heute hieß es, früh etwas schneller als sonst in die Puschen zu kommen. Also wurden die Sachen gepackt, das Zelt abgebaut und zum Trocknen hingelegt, da es in der Nacht noch immer geregnet hatte. Alles lief glatt, so dass wir dank Christians exakter/pedantischer Zeitplanung pünktlich ankamen und in der Warteschlange für die Fähre unter den starrenden Blicken eines Jungen unser Frühstück mit Müsli, Kaffee und Tee im Auto nachholten. Dann ging es auch schon los und wir fuhren mit zig anderen Fahrzeugen auf die Viking-Fähre „Gabriella“. Um 10.30 Uhr beobachteten wir vom Deck aus, wie die Fähre erst im Hafen von Helsinki eine Ehrenrunde drehte und dann durch die vorgelagerten Inseln aufs offene Meer zusteuerte. Wir waren echt froh, dass wir nicht mal in Erwägung gezogen hatten, das 30 € teure Buffet an Bord zu buchen, denn schon wenige Minuten nach Abfahrt bildete sich eine derart lange Schlange, als ob es Freibier für alle gäbe. Wir schalteten erst mal wieder in den Sparfuchsmodus und kredenzten uns in einer Ecke am Fenster mit Thermosflaschenwasser erst einmal schön eine Kartoffelbrei-Fünf-Minuten-Terrine. Von diesem Luxusessen gestärkt, kamen wir dann 13 Uhr im Hafen in Tallinn an und bemerkten gleich die deutlich angenehmeren Benzinpreise von 1,17 €. Auf einem Campingplatz am Segelhafen in Tallinn Pirita schlugen wir das seit Stockholm nicht mehr genutzte blaue Partyzelt auf, kochten Nudeln und schmissen uns dann erst mal ein bisschen in die Sonne. Bei 24 Grad und einem leichten Wind, ist es hier sicherlich etwas erträglicher als bei den Höllentemperaturen in Deutschland. Da wir heute kaum selber gefahren sind, wollten wir unsere überschüssige Energie noch in eine kleine Kneipentour investieren. Vorher war das kaum möglich, weil zwei Bier in der Kneipe ungefähr so viel kosteten wie ein Kasten gutes Bier zuhause. Also ging es mit dem Bus in die Stadt, wo wir uns im Restaurant „Kompressor“ mit herzhaft gefüllten Pfannkuchen erst mal eine ordentliche Grundlage für das Bier schufen. Danach kehrten wir in eine Mikrobrauerei ein, die acht verschiedene Biere selbst herstellen. Bei Humtata-Musik, Karten in Bierglasform und Kellnern in Tracht musste man kurz überlegen, ob wir heute nicht aus Versehen die Fähre nach Bayern genommen haben. Nach zweimaliger Besatzung durch die Deutschen (einmal zu Zeiten der Hanse und noch einmal im II. WK) ist der Sauerkraut-,Schweinebraten- und Biereinfluss in Tallinn unübersehbar. Da es Sonntag war, herrschte allerdings etwas tote Hose. Als wir gerade nach Hause gehen wollten, fiel uns doch noch eine Kneipe auf, in der wir noch EIN letztes Bier trinken wollten. Bei Bier und ständigen kostenlosen Runden Schnaps bekamen wir gleich noch eine zusätzliche Lektion in estnischer Sprache, Geschichte und Mentalität. Im zweiten Weltkrieg fielen die Baltikstaaten nach dem Hitler-Stalin-Pakt an die Sowjetunion, wobei massenhafte Deportationen von regimekritischen Esten, Letten und Litauern nach Sibirien erfolgten. Nachdem das Deutsche Reich 1942 die Sowjetunion angriff, stand das Baltikum unter deutscher Herrschaft. Fast 300.000 Balten fielen der NS-Schreckensherrschaft zu Opfer. Das dauerte allerdings nur so lange, bis die Rote Armee die baltischen Gebiete zurück eroberte und auch nach dem Krieg die unrechtmäßig erworbenen Länder zugesprochen bekam. Die Deportationen und Hinrichtungen durch die Sowjets setzten sich fort. Erst 1991 gelang es den Baltikstaaten durch Widerstand und zum großen Teil friedliche Revolutionsbewegungen, die Unabhängigkeit zu erlangen. Eine bewegte Geschichte, die auch den Leuten in unserem Alter in der Kneipe durchaus sehr präsent ist. Für uns war es schon komisch, dass in der Erinnerung der Esten die Verbrechen der Nazis gegenüber denen der Sowjets stark abgewertet werden. Auch heute noch ist die Beziehung zu Russland und denen im Baltikum lebenden Russen belastet. Die Ukrainekrise hat die Angst verstärkt, als kleines Land erneut unter das Joch der Russen zu fallen und die Unabhängigkeit zu verlieren.
Aber neben ernsten Themen hatten wir natürlich auch mit Leuten aus Estland, Dänemark, Brasilien und Nicaragua eine Menge Spaß (und Bier). Als wir um vier Uhr früh dann aus der Kneipe heraus stolperten, fuhr natürlich kein Bus mehr. Nach Verhandlungen mit vier Taxifahrern fuhr uns der fünfte dann schließlich für 10 € zum Campingplatz, wo wir gleich fix und fertig in die Schlafsäcke krochen. Man kann ja nicht völlig ohne Schlaf Tallin besichtigen.

