Heulte quälten wir uns um 6 Uhr früh aus dem Bett, machten uns fertig, kontrollierten noch lieber zweimal, ob wir den Reisepass wirklich dabei haben und machten uns auf den Weg zum Hauptbahnhof Kiew. Dort sollte unser Kleinbus in Richtung der Sperrzone rund um Tschernobyl um 08 Uhr starten. Als wir ankamen, wurden wir gleich einmal in den „deutschen Bus“ gesteckt, in dem aber neben vier Deutschen noch zwei Kanadier und ein Amerikaner saßen. Mit unserem Guide Johnny fuhren wir dann über wahnsinnig holprige Straßen, über die der Fahrer seinem armen Mercedes-Kleinbus mit einer Mordgeschwindigkeit hinüber jagte. Während wir kurz vorm Schütteltrauma standen, erzählte uns Johnny bekannte, aber auch viele unbekannte Sachen über das Reaktorunglück vom 26.04.1986. Der nachfolgende Film „Battle of Tschernobyl“ machte noch einmal gut deutlich, dass nicht nur menschliches Versagen, sondern auch die Umstände des Kalten Krieges dazu führten, dass mehr Menschenleben gefährdet wurden, als notwendig war. Bewusst wurde auch, wie viele Menschen als Liquidatoren (natürlich größtenteils zwangsweise) unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Gesundheit verhinderten, dass die Katastrophe sich noch mehr ausbreitete. Anerkannte Opfer sind bis heute nur die, die direkt bei der Katastrophe umkamen und die ersten Feuerwehrmänner aus dem Reaktor und aus der Umgebung, die aufgrund unheimlich hoher Strahlenbelastung innerhalb weniger Tage im Moskauer Krankenhaus Nr. 6 an akuter Strahlenkrankheit starben. Diese waren dermaßen hoch mit Strahlung belastet, dass sie das gesamte Krankenhauspersonal kontaminierten und in einem Aluminiumsarg unter zweifachen Betonschichten begraben werden mussten.
Auf dem Weg zur Sperrzone schalteten wir den Geigerzähler an. Er zeigte 0,14 mSievers an. Ein völliger normaler Wert, der je nach Land schwanken kann und nicht 0,3 mSievers überschreiten sollte. Gegen 10.30 Uhr kamen wir an der 30 km- Sperrzone an, die Pässe wurden kontrolliert und ohne große Zwischenfälle ging es mit dem Bus weiter. Erster Halt war in einem Dorf, wo uns das Kulturhaus und eines der Wohnhäuser gezeigt wurden. Die Evakuierung der zweiten Sperrzone fand erst ab dem 03. Mai 1986 statt. Ziel der Evakuierung war, Panik zu vermeiden. Dazu nahm man allerdings auch in Kauf, die Bewohner über die unsichtbare Gefahr viel zu lange im Unklaren zu lassen. Im Wohnhaus, dessen Betreten eigentlich strengstens verboten ist, fand man auch Zeitungen und Tagebucheinträge von 1988, was damit zu erklären, dass insbesondere alte Leute einfach wieder zurück gekommen sind. Wer ein oder zwei Weltkriege überlebt hat, der macht sich natürlich auch nichts aus einer Gefahr, die man nicht einmal sehen oder wahrnehmen kann. Noch heute leben in dieser Sperrzone neben Arbeitern über 100 dieser Rücksiedler. Insgesamt leben mehr oder weniger dauerhaft über 1000 Menschen in der Sperrzone.
Nach dem Ortsschild „Tschernobyl“ fuhren wir in die Stadt Tschernobyl, die im Vergleich zur Stadt Prypjat weiter vom Kraftwerk wegliegt. Die Namensgebung erfolgte aber, weil Tschernobyl die ältere Stadt ist und Prypjat nur als Planstadt für die Arbeiter des Kraftwerkes und ihre Familien geplant wurde. Hier findet man das Denkmal „Schwarzer Engel“. und eine Karte und die Ortsschilder der ukrainischen Städte und Dörfer, deren Einwohner nach dem Unglück ihr Zuhause verloren.
Weiter ging es zum Denkmal „Those who saved the world“ (Für die, welche die Welt retteten), welches vor allem an die Feuerwehrmänner, aber auch an alle andere Liquidatoren erinnern soll. Nur knapp wurde nämlich damals verhindert, dass noch schwerwiegendere Folgen für ganz Europa entstanden wären. Nur durch den Bau eines Tunnels unter dem Reaktor mit einem komplizierten Kühlungssystem konnte abgewendet werden, dass die radioaktive Schmelze ins Grundwasser vorgedrungen wäre , was eine zweite Explosion ausgelöst hätte. Die Bergarbeiter wurden dabei hochgradig kontaminiert.
Welch hohe Strahlung diese Menschen abbekamen, sah man deutlich am nächsten Halt, einem Friedhof für Roboter, welche die Beseitigung des radioaktiven Materials, das durch die Explosion auf dem Dach verteilt war, übernehmen sollte. Durch die Strahlung versagte schon nach wenigen Stunden die Technik dieser Roboter. Ihre Aufgabe übernahmen Bio-Roboter, junge Männer, meist Soldaten in der Wehrpflicht, die für 100 Dollar und einem feuchten Händedruck ohne ausreichende Schutzkleidung den atomaren Dreck zusammenkehrten. Sie bekamen Strahlungen ab, die um ein Vielfaches jegliche Toleranzwerte überschritt.
Anschließend schauten wir uns „Duga 3“ einen Teil des Abhörsystem der Russen zu Zeiten des Kalten Krieges an. Damit sollten vor allem eine größere Anzahl an Atomsprengköpfen in der USA ausgemacht werden. Mal ganz abgesehen, dass das angeblich ach-so-geheime System so groß ist, dass man es fast mit bloßen Auge von den USA sehen kann und durch seine typischen Laute (ähnlich einem Specht) auch durch die USA abgefangen werden konnte, löste es durch einen weißen Punkt auf dem System bald einen Atomkrieg aus. Zum Glück konnte noch rechtzeitig festgestellt werden, dass der weiße Punkt doch keine Atomsprengköpfe, sondern nur ein Satellit war.
Der nächste Halt war an einem Dorfkindergarten. Die Werte des Geigerzählers stiegen hier auf über 3 mSievers, also eine Dosis, der man nicht längerfristig ausgesetzt sein sollte. Das Spielzeug, die Betten und Töpfchen standen noch so, als ob die Kinder erst gestern gespielt haben, doch der Staub und die herabhängenden Tapeten sprechen andere Bände.
Anschließend erreichten wir den Kontrollpunkt der 10-km Sperrzone rund um den Reaktor und kurz darauf sah man ihn auch zum ersten Mal- den zerstörten Reaktor Nummer 4 im Sarkophag, umgeben von anderen Reaktoren, die auch nach dem Unglück mit Unterbrechung teilweise noch bis in das Jahr 2000 weiterliefen. Daneben steht schon der neue Sarkophag, ein europäisches Gemeinschaftsprojekt, der bei Fertigstellung über den alten Sarkophag gezogen und verankert wird und damit die Strahlung für weitere 100 Jahre eindämmen soll. Die Sperrzone wird aber noch mehrere hundert Jahre verseucht sein. Eine Reinigung würde bedeuten, überall den Boden um 30 cm abzutragen, was bei einer Sperrzone von 30 km verständlicherweise ein unmögliches Projekt ist. Auf dem Parkplatz standen wir dann circa 100 m vom Reaktor weg, was die Werte bis 6 mSievers hochtrieb. Unfassbar, dass diese Katastrophe und Fukushima nicht zur Vernichtung aller Atomsprengköpfe und Abschaltung der Atomkraftwerke führte.
Nach dem Mittagessen in der Kantine des Atomreaktors stibitzten wir noch etwas Brot, um die riesenhaften Welse im Kühlkanal des Atomreaktors zu füttern. Das war schon vor 1986 eine beliebte Unterhaltung der Arbeiter. Obwohl man versuchte, nach dem Unglück möglichst viele dekontaminierte Tiere zu töten, ließ man die Welse für wissenschaftliche Zwecke im Kühlkanal.
Danach fuhren wir durch den sogenannten „roten Wald“, der aufgrund der herrschenden Windrichtung hochgradig atomar verseucht wurden ist, in die nur zwei Kilometer entfernt liegende Stadt Prypjat. Nach der Explosion liefen viele dieser Einwohner auf der Straße in Richtung des Reaktors, nicht wissend, dass sie dadurch noch mehr der unsichtbaren Strahlung entgegenliefen. Die Stadt Prypjat besaß zur Zeit des Unglücks fast 50.000 Einwohner. Diese mussten innerhalb von wenigen Stunden am 27. April 1986 ihre Wohnhäuser verlassen und wurden mit Bussen aus der Sperrzone gebracht. Sie sollten nie wieder kommen. Die einstig schöne Stadt Prypjat ist heute eine Geisterstadt, überwuchert mit 30 Jahre alten Bäumen und Gestrüpp. Vorbei am Kulturpalast ging es zum Vergnügungspark Prypjat, der am 01. Mai 1986 eingeweiht werden sollte und deshalb nie eröffnet wurde. Hier steht auch das Riesenrad, was wahrscheinlich vielen bekannt ist.
Weiter ging es zum Schwimmbad Prypjat, das auch noch nach 1986 weiter genutzt wurde. Auf die Treppen wurde ganz einfach Plastik gelegt, was man dann regelmäßig abspülte. Schließlich kamen wir zu eine der Schulen in Prypjat, von denen die Stadt sehr viele hatte, weil es das Bevölkerungsalter mit 26 Jahren sehr niedrig war. In einem Raum liegen hunderte von Kindergasmasken, welche die Kinder jedoch nie benutzten. Die Liquidatoren schraubten nach der Evakuierung nur die Filter ab, um sie für ihre Gasmasken zu verwenden. Wie im Kindergarten sieht auch die Schule wie gerade erst verlassen aus. Gerade an diesen Orten muss man an den Erinnerungsraum im Kiewer Tschernobyl-Museum denken, in dem hunderte Bilder von Kindern aus der jetzigen Sperrzone ausgestellt sind, die viel zu früh an Lymphdrüsenkrebs oder anderen Nachwirkungen der Katastrophe starben.
Die letzte Station in der Sperrzone war das Dach eines sechzehnstöckigen Gebäudes. Auf das Dach von Gebäuden zu steigen, ist natürlich noch verbotener, als in Gebäude zu gehen, aber was die Sperrzonenpolizei nicht weiß, macht sie nicht heiß. Von da aus hatte man noch einmal ein Blick auf den Reaktor, das „Duga 3“ und auf das völlig zugewachsene Prypjat.
Auf der Rückfahrt mussten wir bei beiden Sperrzonenkontrollen kontrollieren lassen, ob wir zu einem beunruhigenden Wert kontaminiert sind. Dies waren wir nicht, bei einem eintägigen Aufenthalt in der Sperrzone bekommt man nur etwa so viel Strahlung ab, wie bei einem Langstreckenflug.
Um 8 Uhr kamen wir völlig fertig am Hostel an. So fertig, dass Christian und ich entgegen unserer sonstigen Gewohnheiten beim Essen gar nicht wirklich Hunger hatten. Es war ein wahnsinnig interessanter Tag, aber durch das straffe Programm und lange Hosen bei 32 Grad auch ziemlich anstrengend. So gingen wir früh schlafen, morgen soll es noch heißer werden, so dass wir früh aufbrechen wollen, um uns dann Nachmittag schon in Odessa im Schwarzen Meer abzukühlen.

























