Am Morgen des Dienstags stiegen wir früh aus den Betten, um den 406 km langen Weg ohne Autobahn von Südungarn nach Sarajevo anzutreten. Die Grenzsituationen war im Vergleich zu vorangegangen Erfahrungen geradezu lächerlich und so ging es wenig nervenaufreibend (zumindest als Nichtfranzose) durch den kleinen Abschnitt Kroatien nach Bosnien. So genau stimmt das nicht, denn an der Grenze zu Bosnien fuhren wir erst einmal in die Republik Srbska ein. Was das bedeuten soll? Später mehr.
Bis Sarajevo erwarteten uns großartige bewaldete Bergwelten. Bisher sind noch über 60% der Fläche Bosniens mit Wäldern bedeckt, was heißt, dass sich hier seltene Tierarten wie Braunbären pudelwohl fühlen. Als wir in Sarajevo etwa halb 6 Uhr eintrafen, staute es sich zwar, aber die Bosnier fuhren erstaunlich regelkonform.
Im Hostel in der Altstadt mussten wir erstmal gleich das großzügige Angebot ausschlagen, vom Nachbarn mit Pitbull Speed aus einem Tütchen zu kaufen, dass er in seinem Mund mit sich herumtrug. Das großzügige Angebot der Hostelmama, erst einmal herein zu kommen, nahmen wir hingegen dankend an. Schnell stellte sich heraus, dass die Verständigung zwischen uns, der Hostelmama und ihrer Tochter Alma einfacher auf deutsch stattfinden sollte. Die Familie hatte während des Krieges 3 Jahre in Deutschland gelebt. Wir erfuhren, dass eine Bekannte während der Kriegszeit die Stellung in dem zerbombten Haus gehalten hatte, so dass nach Abschiebung aus Deutschland der Wiederaufbau begonnen werden konnte.
Am Abend gingen wir noch ein bisschen Erkundungstour in die Stadt. Schon beim Spazierengehen durch die Fußgängerzone erkennt man, welch ein „Melting Pot“ Sarajevo ist. Moscheen neben katholischen und orthodoxen Kirchen und direkt nebenan die Synagoge. In Sarajevo leben etwa 50 % muslimische Bosniaken, 30 % orthodoxe Serben und 8 % katholische Kroaten. Der Rest sind Romas, Juden und alle erdenklichen anderen Minderheiten. Wir brauchten erst einmal ein paar Cevapcici, einen Schopska-Salat und ein Bier, um das zu verdauen. Später schlenderten wir weiter, ließen die Baklavageschäfte aus Bikinifigur-Gründen links liegen und gönnten der Schwungmasse lieber noch ein, zwei Bierchen in einer kleinen, engen Seitengasse.
Am nächsten Tag zauberten wir uns ein Müsli aus unseren gar nicht reichlich mitgenommenen Vorräten von zuhause und dann ging es ab zum Mechaniker. „Noch nicht mal 2000 km und schon beim Mechaniker. Mit der Karre auch kein Wunder“, wird jetzt so mancher denken. Tatsächlich sind es aber nur kleinere Probleme wie ein unruhiger Leerlauf, der vor allem dem stets argwöhnischen Christian Sorgen macht. Mit Almas Freund Eme fuhr Christian also zur nächsten Werkstatt, wurde da kräftig ausgelacht, was er sich denn für Sorgen machen würde. Das Auto fahre doch und was wolle er denn auch von diesem Hobel erwarten. Während wir auf das Auto warteten, fuhren wir mit Eme und Alma noch ein Stück einen der Sarajevo umgebenden Hänge hinaus, aßen etwas und genossen den Ausblick über die Stadt. Trotz reichlichen Bekniens ließen die zwei sich es sich nicht einmal nehmen, uns zum Essen einzuladen. Man muss sich das mal überlegen – wir als Hostelgäste bekommen die Wäsche kostenlos von Mama gewaschen, man fährt uns zum Mechaniker, durch die halbe Stadt und besteht dann noch darauf, die Rechnung zu übernehmen und entschuldigt sich noch dreimal bei uns, dass der Mechaniker so lang braucht und sie angeblich unsere Zeit zum Stadt besichtigen geraubt hätten. Irre! Der Autocheck verlief jedoch mit unklarer Diagnose zwischen Zahnriemen übersprungen oder Luftmassenmesser.
Kurz vor um 3 fuhren wir dann mit der Straßenbahn wie immer erstmal schwarz zum Theaterplatz, weil wir aus guter Tradition heraus eine Walking Tour mitmachen wollten. Neno, der die Tour mit Schwerpunkt Bosnienkrieg und aktuellere Geschichte Bosniens anbot, erlebte selbst als Siebenjähriger den Beginn des Krieges 1992 mit. Die Familie, welche nicht dachte, dass der Krieg 44 Monate andauern würde, blieb die gesamte Zeit über in Sarajevo und lebte zusammen mit anderen Familien im Keller ihres Hochhauses. Eine wahnsinnig spannende Tour begann, in der Neno, der selbst das Kind eines serbischen Vaters und einer bosnischen Mutter ist, die Geschichte sehr berührend, aber auch sehr objektiv erzählte.
Eine kurze Zusammenfassung: Im Jahre 1980 verstarb Tito, der ganz Jugoslawien zwar autoritär regierte, aber mit fester Hand den Vielvölkerstaat geeint hatte. Ab dann begannen einzelne Unabhängigkeitsbestrebungen der Nationen die Lage zu destabilisieren. Im Jahre 1992 ließ schließlich Bosnien über die Unabhängigkeit abstimmen, welche fast einstimmig angenommen wurde. Das Problem- der Wahlanteil wurde fast hauptsächlich von muslimischen Bosniaken gestellt, während vor allem die serbischen Bosnier die Wahl boykottierten. Sie hatten Angst, in einem souveränen Staat Bosnien keine Anerkennung mehr zu finden. Als auch noch viele andere Länder die Unabhängigkeit Bosniens bestätigte, eskalierte die Situation. Die serbischen Bosnier griffen unterstützt von den Landesserben und den Kroaten massiv Sarajevo von den umliegenden Bergen mit Mörsern und Scharfschützengewehren an. Statistisch ereigneten sich nach UN-Zählung täglich etwa 300 Detonationen. Die Beteiligung der Blauhelme der UN, die nach Ansicht vieler Bosniaken zu spät und nicht entschieden genug den aussichtslosen Kampf der in Sarajevo gebliebenen Bosniaken unterstützte, ist umstritten. Jedenfalls waren sie es, die schlussendlich in Dayton einen Friedensvertrag aushandelten. Daraus ging hervor, dass Bosnien in den zentral gelegenen, zumeist muslimisch/bosniakischen Teil „Föderation Bosnien“, in den serbischen Teil im Norden und Süden „Srbska“ und in den Zankapfel Brcko aufgeteilt wurde. Es gibt drei Präsidenten (bosniakisch, serbisch, kroatisch), die in ihrer Macht rotieren. Jedes Gebiet hat zudem noch einen eigenen Präsidenten und eine eigene Verwaltung, Gericht etc. Kurzer Zwischenstand – Bosnien hat insgesamt 6 Präsidenten. Da die Föderation Bosnien auch noch einmal in 10 Kantone aufgeteilt ist, haben die natürlich auch eine eigene Verwaltung und eigene Gesetzgebung. Endstand – 6 Präsidenten, und 16 Verwaltungen mit eigener Gerichtsbarkeit und allem Pipapo. Wundert sich jemand dann, dass man in all diesem Chaos wunderbar der Korruption nachgehen kann und der ganze Staatsapparat derart viel Geld verschlingt, dass ein Viertel (bei Jugendlichen sogar 65%) der Menschen arbeitslos sind? Wundert sich jemand jetzt, warum er/sie immer gedacht hat, wir hätten in Deutschland tierisch viel Bürokratie und außerdem jetzt Kopfschmerzen hat?
All das erzählte uns Neno, als wir an verschiedenen neuralgischen Stellen des Bosnienkrieges vorbei gingen. Am Markale-Markt, an dem 1994 ein Mörsergeschoss 64 Zivilisten tötete, an den „Rosen von Sarajevo“- rot nachgezeichneten Einschlagskratern als Erinnerungen an die Detonationen, an der „Sniper-Alley“ oder an der aus eingeschmolzenen Granatsplittern bestehenden Statue für die über 1000 Kinder, welche die 44 Monate Angriff nicht überlebten.
All das erzählte uns Neno mit der Erinnerung an die mutigen Bürger Sarajevos, die das Leben trotz Aussichtslosigkeit haben weitergehen lassen, aber auch vor dem Hintergrund, die Sinnlosigkeit des Krieges aufzuzeigen, der natürlich nicht aus Hass des einzelnen Bosniaken gegen den Serben oder aus religiösen, sondern rein aus politischen Machtstreben geführt wurde. Er selbst hofft, dass irgendwann diese Unterteilung in Völkergruppen aufhöre, so dass alle zusammen unter einem Präsidenten, der alle Interessen vertritt, nicht gegeneinander, sondern zusammen für ein Ziel kämpfen könnten, nämlich das des wirtschaftlichen Aufschwungs Bosniens.
Wir waren tief beeindruckt von der bewegten Geschichte. Zusammen mit anderen Tourmitgliedern gingen wir danach einen Kaffee trinken und dann spazierten wir zum Avaz Twist Tower, der mit 172 m der höchste Turm im Balkan ist. Für einen lächerlichen Betrag von umgerechnet 1 € ging es mit dem gläsernen Fahrstuhl bis in die 35. Etage des Turms, von der man einen großartigen Blick über Sarajevo hatte. Nachdem wir uns satt gesehen hatten, fuhren wir wieder unten mit der Tram in die Altstadt, um auf den Wunsch eines einzelnen Herrn hin Pleskavica (eine Art Balkanburger) zu essen. Zum Nachtisch gab es noch ein großes Stück Baklava und ein paar Bier, um das Essen und die Erlebnisse des Tages zu verdauen.
Am nächsten Tag starteten wir früh, um das lange Stück von 580 km mit nur wenig Autobahn zu bewältigen. Unproblematisch kamen wir über die bosnisch-serbische Grenze. Problematischerweise war da schon die Grenze von Serbien zu Bulgarien, bei der zeitweise gar nichts vorangehen wollte. Die vielen europäischen Türkeifahrer stimmten zum Hupkonzert ein. Ob dieses Verhalten außer Ohrenschäden tatsächlich etwas bewirkte, bleibt allerdings fraglich. Mit einer Stunde Zeitverschiebung kamen wir dann erst gegen 23 Uhr nach 12 Stunden Fahrt in einem Hochhausapartment am südlichen Stadtring von Sofia an. Christian setzte sich gegen meinen Nudeln mit Tomatensauce-Wahn durch und so machten wir noch Nudeln Aglio Olio mit derart viel Knoblauch, dass wir hoffen, morgen so zu stinken, dass wir nicht noch länger als nötig an der türkischen Grenze aufgehalten werden.

