21.09. – 03.10. 2018 – Indien

Nach all dem Stress am Flughafen vergingen der mehr als fünfstündige Flug bis Neu-Delhi wirklich wie im Flug. Und dann waren wir da. In einem Land, vor dem wir ehrlich gesagt mehr Respekt als Vorfreude empfanden. Einem Land, von dem wir gehört hatten, dass wir es nur entweder lieben oder hassen können, da es so stark polarisiert. Wie würde es uns wohl ergehen? 

Da wir erst nach 23 Uhr in der Nacht ankamen, wollten wir uns den Stress am Flughafen mit den Taxifahrern, die in Delhi besonders schlitzohrig sein sollen, ersparen. Also investierten wir lieber etwas mehr Geld und nahmen den Abholservice des Hotels in Anspruch. Doch als wir aus dem Flughafen heraus kamen und ganz gespannt waren, auch mal unseren Namen auf einem Schild am Flughafen zu lesen, wurden wir enttäuscht. Wir waren weder Mr. Miller, noch Mrs. Yen oder was auch immer auf den anderen Schildern zu lesen war. Während ich Simkarten auftrieb, kam dann auch Christian mit unserem Fahrer im Schlepptau wieder. 

Auch wenn die Fahrt sehr bequem war, merkten wir schon deutlich zwei Sachen. Eins – Auch nach Mitternacht scheint Neu-Delhi nicht einmal ein bisschen schläfrig zu sein. Zwei- Wie auch? Bei dem Lärm?? Da wir direkt am Hauptbahnhof übernachteten, war es trotz einigermaßen guter Fenster schwer, sich erstmal an die ständige Lärmbelastung, die vor allem durch hupende und klingelnde Autos, Tuktuks, Motorräder und Rikschas her rührt, zu gewöhnen. Wir ahnten, dass das erst der Anfang war.

Nach einer ersten lauten Nacht machte sich gegen Mittag der Hunger bemerkbar. Schnell riefen wir mit der App „Uber“ ein Taxi. Diese nutzen wir seit Malaysia sehr häufig, da sie jegliche Diskussionen um nicht angeschaltete Taxameter, absichtliches Umwege fahren und sonstige Betrügereien ganz einfach umgeht. Nur wenig später hatten wir eine riesige, vegetarische Thali-Platte auf dem Tisch stehen. Neben Reis und indischen Brot finden sich bei so einer Art von Gericht kleine, runde Töpfchen auf einer großen Platte. In jedem runden Töpfchen ist ein anderes leckeres Curry, Chutney, Joghurt oder sonstige, absolut verlockende Sachen. Zwei Stunden später waren wir dann auch sicher- unser Magen hatte unser erstes indisches Essen erfolgreich bewältigt.

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Thali- ein Ring, dich mit Essen zu knechten…
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Ein Lassiverkäufer – Ein Lassi hat in Indien hat nichts mit diesem Zeug zu tun, dass man in Deutschland kaufen kann. Er wird so oft geschüttet und gerührt, dass man am Ende das Gefühl hat, eine Wolke zu trinken, Wahnsinnig lecker!

Vollgefuttert machten wir uns dann auf den Weg zum Nationalmuseum. Dank eines kostenlosen Audioguides konnte man dort nicht nur sowohl die ältere Geschichte Indiens nachvollziehen, sondern lernte noch dazu viel über den Hinduismus. Wir müssen aber eingestehen, dass uns noch immer viel Wissen über Bräuche, Sitten und vor allem die schier unglaubliche Zahl an Gottheiten dieser Weltreligion im Verborgenen liegt.

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Wie immer sehr interessiert. Christian beim Betrachten einer Wanddekoration im Nationalmuseum.

Dass die Inder auf jeden Fall sehr auf Gott vertrauen müssen, stellte sich am nächsten Tag heraus. Wir hatten uns für den ganzen Tag ein Taxi mit Fahrer gemietet, um in möglichst kurzer Zeit viele Sehenswürdigkeiten in Delhi zu besichtigen. Geschickt schlängelte sich der Fahrer durch den Verkehr, für den das Wort „verrückt“ nicht ausreicht. Man muss sich einfach vorstellen, dass in Indien 1,3 Mrd. (!) Menschen leben, davon in der Metropole Neu-Delhi schon fast 26 Mio. Und da Neu-Delhi nicht schläft, muss gefühlt jeder dieser 26 Mio. Menschen durch den Straßenverkehr – mit LKW, Bus, Auto, Fahrrad, Fahrradrikscha, Moped oder Tuktuk. Und zwischen diesem ganzen Chaos stehen vollkommen unbeeindruckt von all dem Trubel Kühe. Während woanders wenigstens das Recht des Stärkeren gilt, scheint hier alles vollkommen regellos zu existieren. Jeder fährt und ob man dann an der Kreuzung stecken bleibt und 20 Minuten im Smog schreit, hupt und lamentiert, während sich jeder in der Minute einen halben Meter vorwärts schiebt, das ist hier vollkommen egal. Vom klimatisierten Taxi aus ist das gut zu ertragen, selbst so leben zu müssen- für uns undenkbar. Die Sehenswürdigkeiten in Neu-Delhi können sich dagegen wirklich sehen lassen. Zuerst besuchten wir die Freitagsmoschee, die mit überraschend groß war. Neben 80 % Hindus im Land ist der Islam mit 14 % Bevölkerungsanteil die zweitgrößte Religion.

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Freitagsmoschee
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Blick von der Freitagsmoschee ins Chaos Neu-Delhis

Gestärkt von einer halben Staude Bananen für 20 Cent nahmen wir das „Red Fort“ in Angriff. Das Weltkulturerbe wurde Mitte des 17. Jahrhunderts gebaut und diente fast 200 Jahre lang den Großmogulen Indiens als Residenz. Da wir nicht im Geld schwimmen wie die Großmogulen ersparten wir uns den 7 € teuren Eintritt zum wohl nicht besonders lohnenswerten Inneren des Roten Forts und schauten es nur von außen an.

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Red Fort
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Christian ist beliebtes Fotomotiv

Nach ungefähr 150 Selfies mit Indern, die total verrückt nach Fotos mit Touristen sind, fuhren wir zum Grabmal des wohl bekanntesten Inders weltweit. Im Jahre 1948 hier von einem fanatischen Hindu ermordet und später auch in einem eigens für ihn angelegten Park bestattet, bleibt wohl die Geschichte Mahatma Gandhis für immer mit Neu-Delhi verwoben. Sein Kampf für Gewaltlosigkeit, Gleichheit und Toleranz zwischen den Religionen machte ihn für viele Inder zu einem Vorbild, für die nationalistischen Hindus zum Hassbild. Sähe Gandhi wohl das heutige Indien mit seinen krassen sozialen Unterschieden und seinen immer noch bestehenden Konflikten zwischen Muslimen und Hindus im Land und zwischen Indien und Pakistan, er würde sich wohl fragen, wofür er eigentlich gekämpft hätte. Wir kämpften nach dem Besuch der Grabstätte, des Ortes des Attentats und des Gandhimuseum jedenfalls mit dem Hunger und machten erst einmal Mittag.

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Das Grab Mahatma Gandhis
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Gandhi-Museum

Selbst das Streetfood danach, an dass nur ich mich herantraute, vertrugen wir gut. Zu verlockend sahen die Panipurri (kleine, hohle Gebäckkugeln, die mit Kartoffelcurry und einer würzigen Sauce gefüllt werden) und der Snack aus Kichererbsen, Limone, Tomate, und Curryblättern aus. 

So gestärkt nahmen wir Angriff auf die Humayans Tomb. Wenn ihr die Bilder seht, wisst ihr, warum  dieses Grabmal für den Großmogul Humayan auch „kleines Taj-Mahal“ genannt wird. Vor allem die Stille hier war eine willkommene Abwechslung.

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Wir haben am Humayans Tomb zu lange auf einer Stelle gesessen. Darum bekam Christian erst ein neues indisches Kind…
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…und dann noch zwei weitere…
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Humayans Tomb
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Nebengebäude im UNESCO-Komplex

Der letzte Punkt auf unserer Agenda war der so genannte „Lotustempel“. Obwohl die Religion der Bahai nur einen winzig kleinen Anteil der Bevölkerung Indiens ausmachen, setzten sie diesen durchaus architektonisch beeindruckenden, aber mit 10 Mio. doch etwas übertriebenen Bau in die Landschaft. Nach über einer halben Stunde Warterei konnten wir uns diese gigantomanisch große Lotusblüte dann auch noch einmal aus der Nähe anschauen. Vertrieben vom strömenden Regen und ausgehungert vom vielen Sightseeing ließen wir uns noch Palak Paneer (eine Art schnittfester Frischkäse in Spinatsauce) und Tomatensuppe schmecken. 

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Ein Besuch beim Lotustempel. Mal wieder waren wir ganz allein 😉

DSC02180Am nächsten Tag erschienen wir viel zu früh auf dem Bahnhof in Neu-Delhi, um unseren über den Internet gebuchten Zug nach Agra zu erwischen. Tatsächlich herrscht hier auf den Bahnsteigen viel weniger Chaos, als wir gelesen und vermutet hatten. Nach fast zwei Stunden Warterei kam dann aber der Zug pünktlicher als die Deutsche Bahn an. Nach etwa 3 h in der zweiten Klasse stiegen wir in Agra aus und stiegen von der Taxiapp Uber auf die indische App Ola um. So einfach kann Indien sein. Zugegebenermaßen machten wir es uns auch sehr leicht. Keine dritte Klasse-Züge, Taxi statt öffentlicher Verkehrsmittel. Aber man muss es sich ja auch in einem Land, in dem das bloße Existieren draußen schon anstrengend ist, nicht noch schwieriger machen. An diesem Tag machten wir dann auch nicht mehr viel. Beim Abendbrot erhaschten wir von der Dachterrasse schon einen ersten Blick auf eines der neuen sieben Weltwunder, das Taj Mahal. Auch lernten wir da den Italiener Carlo kennen, der den ganzen Weg von zuhause bis Agra mit dem Motorrad zurück gelegt hatte. Da ließ er unsere 17.300 km im Miniauto echt blass aussehen. Am darauffolgenden Morgen machten wir uns dann mit Carlo auf dem Weg zum Taj Mahal. Nach dem Bezahlen von 14 € pro Person gingen wir auf das Gelände und nach einem Torbogen lag es vor uns. Ja, es ist nur ein Gebäude, aber was für eines. Von jeder Seite 55 m lang und 35 m hoch, steht es, schwebt es fast auf einem Podest im blendenden weißen Marmor. Wahrscheinlich hätte es ein einfacher Grabstein auch getan, aber für Mumtaz Mahal, die Gattin des damaligen Moguls, musste es schon etwas Besonderes sein, als sie bei der Geburt ihres sage und schreibe 14. Kindes starb. Schlecht für sie, gut für uns, denn nun kann man das UNESCO-geschützte Grabmal in aller Ruhe von allen Seiten bewundern. In aller Ruhe ist gelogen, denn sobald man stehen blieb, bildete sich in Sekunden eine Schlange von Indern, die um Selfies baten. Nachdem nicht wenige auch einfach ungefragt von uns Bilder machten, hatten wir davon echt so langsam die Schnauze voll und lehnten danach mehr oder weniger konsequent weitere Anfragen für Fotoshootings ab. Hätten wir für jedes Selfie in Indien Geld verlangt, wir wären jetzt bestimmt schon eine Menge Rupies angesammelt.

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Der erste Blick auf das Taj Mahal

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Äffchen am Taj Mahal – wie alle Rhesusaffen mit Vorsicht zu Genießen…

DSC02356Auf der Rückfahrt zum Hostel stoppte unser Tuktuk-Fahrer, auf einmal krachte es und wir wurden fast aus den Sitzen befördert. Auf das Tukuk war ein Mopedfahrer aufgefahren, der sich schon wieder lachend aufrappelte. Bei 19 Verkehrstoten je 100.000 Einwohner (in Deutschland sind es circa 4) ein zum Glück glimpflich abgelaufener Verkehrsunfall. Am Abend um 9 Uhr wurden wir noch Zeuge eines mysteriösen Phänomens. Im Aufenthaltsraum unseres Hostels saß eine Klasse von vorpubertierenden Kindern, die offensichtlich den Tag im Taj Mahal gewesen waren und sie hörten nach dem langen Tag andächtig ihrem Guide zu, der noch etwas über dieses Bauwerk erzählte. Uns trieb es beinahe das Wasser in die Augen, als die Kinder auch noch anfingen, interessierte, intelligente Fragen zu stellen. Deren Lehrer ließen sich aber trotz heftigster Bestechung nicht auf einen Schüleraustausch ein. 😀

Am gleichen Abend ging es weiter südwestlich mit dem Nachtbus nach Varanasi. Dies ist eine der heiligsten Städte für die Inder. Wer hier stirbt und hier am Ganges verbrannt wird, dem winkt die direkte Eintrittskarte ins Nirwana. Sterben wollten wir eigentlich noch nicht, aber zumindest die sehr spirituelle Atmosphäre erleben, die diesen Ort umgeben soll. Angekommen nach einer holprigen Fahrt, bei der man aufgrund der Schlafkabinen wenigstens nicht sehen konnte, dass der Busfahrer bestimmt mehr als einmal Russisch Roulette mit unserem Leben spielte, war jedoch gar nichts spirituell. Abgesetzt im Straßengewirr, in dem Tuktuks nicht fahren dürfen, wühlten wir uns in den etwas mehr als 1 m breiten Straßen bei 40 Grad Celsius durch Inder, die alle etwas verkaufen wollten, Mopeds, Müll, Kühen und deren Hinterlassenschaften und den allgegenwärtigen roten Spuckeflecken, die vom Konsum der Betelnuss her rühren. Der freundliche Inder, der uns auf den letzten 50 m den Weg zum etwas versteckt liegenden Hostel zeigte, musste im Hostel hartnäckig ignoriert werden, weil er für seinen Freundschaftsdienst nun plötzlich Geld wollte. Nie war es angenehmer, die Klima auf die Stufe „Eishölle“ zu drehen und einfach nur davor langsam wieder zum Mensch zu werden. Als dies geschah, schlugen wir das Angebot des Hostels zum Yoga machen aus, weil wir noch ein bisschen die Stadt erkunden wollten. Im Endeffekt wäre Yoga wahrscheinlich die bessere Entscheidung gewesen, denn nur wenn man sich in tieferen Sphären bewegt, kommt man wohl mit dem ganzen Chaos gut klar. Wir hatten in Delhi Rikschafahrer gesehen, die im ohrenbetäubenden Lärm auf ihrem Rikscha schliefen- die Schulterblätter und der Kopf auf dem Sattel und die Beine auf dem Lenker. Das muss man erstmal schaffen. Wir wühlten uns stattdessen doch sehr angespannt wieder zurück durch Kuh und Kuhkacka, Sari tragende Frauen, schreiende Männer („Hello Sir, Rikscha?“ „Hello Sir, what are you looking for?“ „Hello Sir, Cannabis?“….) und völlig bekiffte Sadhus (heilige Bettelmönche mit Dreads).

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Enge Gassen Varanasis. An so einem großen Tier so eng vorbei gehen zu müssen kostet erst einmal etwas Überwindung.
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Kühe überall….
cof
Diese Kuh leistete Christian Gesellschaft, als dieser mitten in der Nacht noch einmal draußen war..

Im Sonnenuntergang führte uns eine Bootsfahrt auf dem Ganges vorbei an vielen der insgesamt 88 Ghats (Zugänge zum Fluss Ganges) von Varanasi. An den Ghats spielt das Leben und der Tod in Varanasi. Am frühen Morgen schon genießen die Gläubigen das Bad im heiligen Wasser, die Tiere werden zum Tränken hinab geführt und an den zwei Verbrennungsghats an den beiden äußeren Enden der Stadt gehen die Feuer, welche die Toten direkt ins Nirwana führen, nie aus. In der relativen Stille der Bootfahrt kamen doch das erste Mal mehr Gefühle für diese Stadt als Überforderung auf. Wir beide, die wir nie mit Religion und tiefen Glauben aufgewachsen sind, spielen doch immer die Rolle des Außenseiters, wenn Menschen überall auf der Welt vor ihrem Gott niederknien, beten, Reliquien küssen oder umrunden. Manchmal berührt einen der Glauben anderer zutiefst, manchmal stößt es einen ab. Hier in Varanasi war es vielleicht beides. Fakt ist, dass man schon echt krass gläubig sein muss, um das Wasser aus einem der am stärksten verschmutzten Flüsse weltweit auch noch zu trinken. Im Dunkeln wohnten wir einer täglich stattfindenden Prozession zu Ehren der Flussgöttin Ganga bei. Viel Räucherzeug, viel Gesang, viel Feuer, viel Hitze, viele Menschen und allgemein wie bisher immer, viel zu viel von allem. 

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Flussfahrt auf dem Ganges in der Abendsonne. 
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Prozession zu Ehren der Göttin Ganga. Es waren auch ein „paar“ andere Menschen da.

DSC02433Doch nach einer erholsamen Nacht hatte man wieder Kraft getankt und so stürzten wir uns ein zweites Mal in das Labyrinth aus Straßen von Varanasi. Durch die Straßen entlang liefen wir zum Marnikarnika Ghat, dem größeren der zwei Verbrennungsghats. Bevor wir überhaupt da ankamen, mussten wir etliche Leute abschütteln, die uns natürlich wieder nur aus Freundlichkeit den Weg zeigen wollten, etwas verkaufen wollten oder Geld für Feuerholz sammelten. Nur zu schnell bekommt man in Varanasi den Eindruck, dass hier das heiligste von allen Dingen nicht der Ganges, nicht die Kühe, nicht die Sadhus oder die Tempel, sondern das Geld ist. Am Marnikarnika Ghat verschlug es uns nach hunderten von „No, thank you!“, „No!“, „No, let me alone!“ jedoch die Sprache. Die mindestens 20 gleichzeitig brennenden Feuer addiert zu den 40 Grad Außentemperatur erzeugten eine unglaubliche Hitze. Wie soll man die Gefühle beschreiben, die man hat, wenn man das sieht? Zusammen mit dem Wissen, dass hier Generationen von Menschen aus der Kaste der Unberührbaren diesen Beruf mit dem Tod leisten müssen und deren Kinder und Kindeskinder auch; mit dem Wissen, dass Kinder, Schwangere und Heilige nicht verbrannt, sondern einfach im Fluss versenkt werden. Es ist wie immer in Indien so viel. Faszination, Verständnis und Unverständnis zugleich. Alles passiert hier öffentlich, es gibt keine Pietät, neben der verbrennenden jungen Frau und deren Familie kacken die Kühe. Aber warum auch nicht, wenn man sowieso daran glaubt, dass das Wichtige am Menschen die Seele und die bloße körperliche Hülle ist, die dahin geht. Wir trauern, viele Südamerikaner feiern und hier wird stumm und still daneben gestanden, bis der geliebte Mensch nach 2-4 Stunden als Asche im Ganges verstreut wird. Man sollte nicht urteilen, wenn auch wir Dinge in Deutschland machen, die für einen größeren Teil der Welt vollkommen unverständlich sind. 

Mit gemischten Gefühlen ließen wir uns an diesem Abend auf die Pritschen im Nachtzug wieder nach Neu-Delhi fallen. Christian vor allem mit ängstlichen Gefühlen, denn sein erster Arztbesuch auf dieser Reise stand an.

Mit deutlicher Verspätung aufgrund des Nachtzuges schlugen wir um 13 Uhr beim Zahnarzt in Neu-Delhi auf. Zum Glück waren wir gut versichert, so musste Christian nicht den typischen, indischen Straßenzahnarzt aufsuchen, der vor allem das Zähne ziehen meisterlich beherrscht. Der Zahnarzt, zu dem Christian ging, stand unseren Praxen in nichts nach. Nach einer kleinen Zahnfüllung, einer Zahnreinigung und einem Zahnputzset für 50 Euronen verließ Christian um mindestens eine Tonne Sorgen erleichtert die Praxis.

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Christian beim Zahnarzt. Ganz tapfer 🙂

Die heilen Zähne feierten wir gleich mit einer leckeren Thaliplatte und noch leckeren, aber leider auch sehr kalorienhaltigen indischen Gebäck. Zusammen mit dem auch hier aufkommenden Fast Food-Trend sind sie wohl der Grund, warum Indien die höchste Rate an Diabetes Typ 2-Neuerkrankungen weltweit hat.

Am nächsten Tag stellten wir im Zug nach Amritsar, unserem letzten Ziel in Indien fest, dass einer unserer Zugplätze zwar reserviert, aber noch nicht bestätigt war. Nun war guter Rat teuer, denn Amritsar liegt fast 500 km von Neu-Delhi entfernt und ein Platz war ja nun bereits bezahlt. Ein netter Australier mit seinem Sohn half uns aus der Patsche. Deren dritte Person konnte nicht erscheinen und ich konnte so den Platz besetzen. Glück gehabt! Einen solchen Zugservice wie hier hatten wir noch nicht erlebt. Neben Getränken und Snacks gab es hier noch ein Dreigängemenü mit Tomatensuppe, Curry und Reis und Eiscreme serviert. Nimm das, Deutsche Bahn! Erst spät kamen wir in Amritsar an und wollten einfach nur noch schnell im Bett verschwinden, dass nach Lakenwechsel sogar einigermaßen sauber war. 

An unserem ersten Tag in Amritsar gönnten wir uns zum Mittag Kulcha, ein heftig mit Butter und Gewürzen beschmiertes Brot, dass mit Currys serviert wird. Während ich schon mit einer Portion kämpfte, zog sich der junge Sikh am Nachbartisch gleich zwei davon in seinen Schlund. Was ein Sikh ist? Na der Grund, warum wir hier waren! Die Sikhs sind eine 27 Millionen starke Glaubensgemeinschaft, die vor allem in Punjabi im nordwestlichen Indien angesiedelt ist. In Amritsar steht ihr Hauptheiligtum, der goldene Tempel. Wenn ihr mal einen Inder mit einem Turban, auch Dastar genannt, seht, dann ist das höchstwahrscheinlich ein Sikh. Traditionell haben die Männer lange Haare, die sie jeden Morgen zu einem Turban binden. Darum führen sie auch neben Schwert, spezieller Unterkleidung und einem Armreif einen Kamm mit sich. 

Nach dem Essen ließen wir uns für 3,50 € zu einem Kleinbus schleppen, der uns, als er voll war, Richtung pakistanischer Grenze bringen sollte. Die Fahrt gestaltete sich für mich als schwierig. Das schwere Essen und die erdrückende Hitze, in der ich viel zu wenig getrunken hatte, ließ mich in dem nicht klimatisierten Kleinbus bald wegklappen. Der Fahrer, ein Sikh, der während der Fahrt unablässig einen Singsang aus deren heiligen Buch rezitierte und komischerweise trotz seines weggetretenen Zustands noch Kleinbus fahren konnte und noch dazu mitbekommen hatte, dass es mir weniger gut ging, spendierte in der Pause ein paar gesalzene Erdnüsse. Noch ein großer Schluck Wasser dazu und siehe da, angekommen an der pakistanischen Grenze war ich wieder ganz die Alte. Nur zu gern wären wir auch nach Pakistan gereist, aber ein Visum für dieses Land ist nicht unkompliziert. Wir waren auch nicht zur Grenzüberquerung, sondern zur Grenzschließung hier. Jeden Tag um 17:15 Uhr beginnt hier auf beiden Seiten der Grenze ein Spektakel, das wohl seines Gleichen sucht. Durch ein riesiges Tor betritt man ein gigantisches Amphitheater, zu dessen einer Seite das Tor und dessen anderer Seite die Grenztore sind. Schnell sicherten wir uns mit etwas Dreistigkeit noch zwei gute Plätze in dem schon gut gefüllten Stadium. Als die Zeit der Grenzschließung näher kam, stieg die Stimmung immer mehr an. Frauen liefen ins Stadium, tanzten ausgelassen, viele Leute schwenkten indische Fahnen. Ein Offizier im Stadium diente mit Mikrophon als Anheizer für die Massen. „India“ schrie er in seinen Sprachverstärker, die Menge wiederholte aus tausendfachen Kehlen. Und ganz deutlich von der pakistanischen Seite sah und hörte man das gleiche Spektakel. Ein Stimmung wie im Fußballstadion. Wenn man es nicht wüsste, würde man denken, es gäbe etwas zu feiern. Dabei hat der Weg, der 1947 zur Trennung von Indien und Pakistan geführt hat, mehr als eine Million Opfer auf beiden Seiten gefordert. Als die Leute noch aufgeheizter „Pakistan“ bzw. „Indien“ brüllten, begann der militärische Teil. Auf beiden Seiten liefen Soldaten auf die Grenze zu. Auf indischer Seite mit beiger Uniform, auf pakistanischer mit schwarzer und Hüten, die am ehesten mit Hahnenkämmen zu vergleichen sind. Die ganze „Show“ glich auch am ehesten einer Mischung aus Hahnenkampf mit akrobatischen Einlagen. Mit bis zur Nasenspitze hoch geschwungenen Beinen marschierten beide Seiten aufeinander zu, drohten mit Gesten, warfen wütende Blicke zu und dackelten dann im gleichen übertriebenen Stechschritt wieder ab. Der nächste Soldat, das nächste Gehabe, dann irgendwann wurden die Seile für die Fahnen förmlich zugeschmissen, es wurde die Hand geschüttelt, als hätte der jeweils andere ein todbringende Krankheit, Tor zu, aus die Maus. Das Ganze ist so überzogen, so lächerlich, dass wir nur zu gern gewusst hätten, ob die Soldaten auch wirklich den gleichen Hass für jene fühlen, die ihnen doch so nah sind und doch so fern sein sollen. 

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Zugang zur Grenze von Indien

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Der Anheizer…
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Stechschritt par excellence…
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So nah und doch so fern. Pakistanische und indische Grenzbeamte mit wunderschönen Kopfbedeckungen.

Am Abend des nächsten Tages stand dann die Hauptsehenswürdigkeit Amritsars an. Nachdem wir uns unserer Schuhe entledigt und unsere Köpfe bedeckt hatten, betraten wir den riesigen Goldenen Tempel im Herzen der Stadt. Der Goldene Tempel an sich steht in einem See auf einer künstlich angelegten Insel. Von diesem Tempel aus wird 24/7 der gleiche Sing Sang übertragen, den der Kleinbusfahrer schon vor sich hin leierte. Hier im Tempelkomplex ist es sehr friedvoll, überall sitzen Menschen im Schneidersitz mit dem Blick auf den goldenen Tempel herum und beten oder gehen im heiligen Wasser des Sees baden. Nur zwei Stellen sind hier nicht friedvoll. Die erste Stelle ist die Schlange, um in den goldenen Tempel direkt hinein zu kommen. Wir haben es versucht, aber eine Stunde bei 35 Grad von allen Seiten gequetscht zu werden wie so eine Zitrone beim Auspressen, ist nichts für uns und wir gaben auf. Die andere nicht friedvolle Stelle wird jedem von euch verständlich sein. Im Tempel wird jeden Tag kostenlos (oder gegen eine freiwillige Spende) für 10.000 (!) Menschen gekocht. In mehreren Speisesälen liegen lange Bahnen von Teppichen auf dem Boden. Um dort hinzukommen, bekommt jeder im Sekundentakt ein Essenstablett und einen Löffel, dann wird angestellt. Sobald sich der Essensaal nach der letzten Reinigung öffnet, strömen alle hinein. Im Krieg und beim Essen gibt es keine Freunde. Mit 10 l – Eimern kommen dann Freiwillige vorbei und schenken Reis und Curry aus. Dinner for one? Vergiss es! Hier gibt es mit einmal Dinner für 500! Und das ist nur ein Durchgang. Nach dem Essen halfen wir an der Waschstraße beim Aufwaschen. Das ist ein wesentliches Prinzip im Sikhismus. Jeder Mensch ist gleich, sobald er den Tempelkomplex betritt und jeder gläubige Sikh sollte wenigstens einmal im Leben eine Woche Freiwilligendienst im Tempel geleistet haben. Einen Millionär, der unerkannt neben dem Obdachlosen Teller abwäscht, das kann es hier schon geben. Anschließend äugten wir noch einmal in eine der Küchen hinein und bekamen glücklicherweise eine kleine Führung. Da waren Töpfe, da hätte man einen kleineren Elefanten am Stück zubereiten können. Unfassbar, was da im chaotischen Indien logistisch geleistet wird, um derart viele Menschen zu versorgen. 

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Goldener Tempel
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Die Schlange zum Goldenen Tempel. Das hält man nur aus, wenn man so ein Menschengedränge bei der Hitze von Kindesbeinen an gewohnt ist.
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Speisung der Massen. Alle warten gespannt auf ihr Essen.
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Eine der Küchen beim Goldenen Tempel.
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Kochen XXL

Am letzten, vollen Tag fuhren wir in die Stadt, um im Teilungsmuseum noch tiefer der Geschichte der Spaltung zwischen Indien und Pakistan auf den Grund zu gehen. Leider machte uns ein örtlicher Feiertag einen Strich durch die Rechnung. So gingen wir nach dem Essen nach Hause. Wir hätten es an diesem Tag mit diesem Essen belassen sollen. In der Nacht wachte ich oben in meinem Doppelbett im Hostel von würgenden Geräuschen aus dem Bad auf. Wir hatten gehört, dass jeder in Indien krank wird. Davon ausgehend, dass jemand im Hostelzimmer wohl etwas mit dem Magen hatte, wollte ich Christian warnen, im Bad zu viel anzufassen. Eine klägliche Antwort vom Bett unter mir machte jedoch ganz schnell klar, dass es niemand anderes als Christian selbst war, der seinen Magen gerade nach außen gestülpt hatte. Entweder es war ein kleiner Darminfekt oder das Dosa (eine Art röhrenförmiger Crepe in Christians Fall mit einer Art indischer Kartoffelbrei) war schlecht, das Resultat war für Christian jedoch echt zum Kotzen. Und das in der Nacht vor dem Flug. Irgendwie klappte es mit viel Aufpäppelei, dass wir dann doch kurz nach Mittag mehr oder weniger lebendig am Flughafen standen, wo Christian unter den kritischen und etwas erzürnten Blick der Security ganze vier Feuerzeuge aus den Taschen seines Rucksacks, seiner Hose und seiner Jacke zauberte. Auch unser kleines Schweizer Taschenmesser, dass bisher immer durch die Kontrollen gegangen war, wurde gnadenlos entrissen. 

Nachdem wir aufgrund eines Zwischenstopps nun zum dritten Mal in Neu-Delhi waren, verließen wir das Land in Richtung Kathmandu/Nepal. Christian atmete sichtlich erleichtert auf. Noch einmal Indien? Für ihn sicherlich nicht so schnell.

Fazit Indien: Es ist für mich schwer, hier ein Fazit zu ziehen. Fakt ist, Indien war für uns trotz dass wir so bequem wie selten gereist sind, psychisch und physisch anstrengend ohne Ende. Fakt ist aber auch, dass wir nur schwer weniger anstrengende Plätze in Indien auswählen hätten können. Wir wollten viel sehen und das haben wir. Wer aber in Indien viel will, der erhält zu viel und nicht immer zu viel des Guten. Ich denke, es gibt Wege, Indien zu sehen und nicht sofort zu denken, dass man da nie wieder hin will. Der bequemste Weg wäre natürlich eine Pauschalreise, der weniger langweilige Weg wäre es, andere Orte zu wählen. Der gebirgige Norden oder die Backwaters von Kerala sollen zum Beispiel sehr ruhig sein. Neben vielen anstrengenden Indern haben wir auch ein paar nette, sehr intelligente Menschen in diesem Land getroffen, denen die Probleme ihres Landes sehr wohl bewusst sind. Die Probleme Indiens sind offensichtlich, aber es ist nicht unsere Aufgabe, uns hinzustellen, als würden wir alles besser wissen. Wir sind Gäste in diesem Land und sicher hat sich Indien nicht uns anzupassen. Man sagt, dass Reisende Indien nur lieben oder hassen können. Nein, wir haben Indien nicht lieben gelernt, aber auch nicht hassen. Unsere Beziehung zu Indien ist wohl, wie so vieles in Indien, zwiegespalten.


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